Varianz als Schlüssel
Ich höre Metal. Nein, nicht Slayer, nicht Motörhead und auch nur selten Metallica.
Progressive Metal. Nein, auch kein Dream Theater und keinen klassischen 70s Prog.
Ich spreche von modernem Progressive Metal, Bands wie Protest the Hero, Between the Buried and Me, The Ocean, The Hirsch Effekt oder Rolo Tomassi. Musik, die sich durch komplexe und dynamische Strukturen, unkonventionelle Taktarten, kompliziertes Gitarrengefrickel und verschiedene Gesangsstile auszeichnet. Hier kollidieren und mischen sich verschiedenste Spielarten und Einflüsse und es entstehen innovative Kompositionen. Es ist ein anspruchsvolles und abwechslungsreiches Genre und das einzige, das mich auf Dauer nicht langweilt.
Kurzum: Meine Leidenschaft in Sachen Musik gilt einem Genre voller Kontraste. Dass mir das auch bei meiner Kunst helfen kann, wurde mir erst kürzlich klar.
Es geht bei Kontrastierung nicht darum, ein Bild einfach mit vielen verschiedenen, konkurrierenden Elementen zu überfrachten – im Gegenteil. Es geht um visuelle Hierarchie, um Blickführung.
Um in der Musikanalogie zu bleiben: Akustisch wären wir schnell überfordert, wenn die Instrumente ohne Sinn und Verstand geprügelt würden, ohne Tonart und ohne Konzept. Es braucht Struktur, selbst in den verrücktesten und heftigsten Parts. Und durch einen Gegenpol – einen ruhigen, leiseren Part, eine Melodie oder zumindest irgendeine Form der Variation, bringen wir Spannung in die Komposition. Durch den Gegensatz wird das Laute kraftvoller und das Leise zarter. Der Kontext stärkt die individuellen Charakteristiken der Einzelteile. Optisch geht uns das ganz genauso. Das können wir nutzen, um damit zu arbeiten.
Amplitude – Helligkeit und Lautstärke
Unser Auge sucht immer zuerst nach dem größten Hell-Dunkel-Kontrast, da dieser dazu beiträgt, Kanten und Grenzen zwischen Objekten zu erkennen und somit räumliche Wahrnehmung ermöglicht. Daher wird er – noch vor Farbkontrasten – in der Regel als der wichtigste Kontrast in der bildenden Kunst angesehen.
Physikalisch betrachtet sorgt die Amplitude (die Höhe des Ausschlags) einer Welle bei Licht für die hell und dunkel, bei Tönen für laut und leise. Als „lauten" Kontrast bezeichnet man daher bei Bildern auch in erster Linie starke Helligkeitskontraste. Leise gesellen sich zarte Linien, Strukturen, leichte Tonwert- und Farbkontraste dazu.
Das eine kann zwar ohne das andere, aber erst zusammen ergeben sich wirklich großartige Bilder, die man lange anschauen will. Mit dem starken Kontrast, der unsere Augen fängt und lenkt, und den schwächeren, den Details, die man vielleicht erst entdeckt, wenn man das Werk schon eine ganze Weile eingehend betrachtet hat.
Tipps für einen besseren Umgang mit Tonwerten:
Blickführung: Kontraste und vor allem deren Kanten bewusst einsetzen, um den Blick der Betrachtenden zu lenken
Räumlichkeit schaffen: im Vordergrund stärkere Helligkeitskontraste einsetzen, im Hintergrund schwächere
Gegenstände erkennbar machen: dafür sind Farben eigentlich egal. Was hart klingt, kann unglaublich befreiend sein. Ein farblich noch so verfremdeter Gegenstand wird immer noch als dieser erkennbar sein, wenn Licht und Schatten stimmen.
Tonwerte prüfen: In Farbe fällt es uns oft schwer, zu beurteilen, ob die Tonwertkontraste in einem Bild funktionieren oder nicht. Dann kann ein schnelles Handyfoto mit einem Schwarzweißfilter Wunder wirken. Recht schnell zeigen sich dann die Schwächen des Bildes.
Wellenlänge – Farben und Tonhöhen
Unterschiedliche Wellenlängen lassen uns optisch verschiedene Farben wahrnehmen, akustisch höhere oder tiefere Töne hören. In beiden Fällen gibt es welche, die mehr miteinander harmonieren als andere. Manche Farben oder Töne können sich regelrecht stören, aber oft braucht man eben auch diese merkwürdigen Akzente, um ein Werk erst richtig interessant zu machen. Hell und Dunkel mögen uns verstehen lassen, was gezeigt wird – Farben können aber den visuellen Reiz eines Bildes oftmals erst ausmachen.
Tipps für einen besseren Farbeinsatz:
Warme und kalte Farben: Um räumliche Tiefe und Atmosphäre zu erzeugen, warme gesättigte Farben für Lichtbereiche verwenden und kühle entsättigte für Schatten.
Farbharmonie: Wenn du das Gefühl hast, mit der Farbwahl überfordert zu sein, schaue dir Bilder an, bei denen Farben gut harmonieren, und versuche nachzuvollziehen, warum. Du kannst auch ein Farbschema "klauen", welches du magst, das ist erlaubt ;) Ich bin kein Fan davon, auf einem Farbkreis zu schauen, welche Farben wo liegen und welche davon irgendeinem Schema entsprechen, da mir dieser Ansatz sehr technisch erscheint – ich mache das immer nach Gefühl.
Komplementärkontrast: Es kann aber helfen, die jeweils größtmögliche Kontrastfarbe zu kennen – also Rot zu Grün, Gelb zu Violett und Orange zu Blau. Man kann bewusst eine Farbe in einem Bild zum Leuchten bringen, wenn man dessen Komplementärfarbe in unmittelbarer Nähe sehr entsättigt einsetzt. Also beispielsweise ein leuchtendes Blau durch ein Umfeld in sehr entsättigtem Orange.
Raum – Flächen und Notenlängen
Dadurch, dass wir unterschiedlichen Farben oder Tönen unterschiedlich viel Raum geben, können wir zwischen ihnen weitere Kontraste erzeugen. Gibt es Überlagerung, gibt es Pausen, was dominiert, was akzentuiert?
Optisch können wir Spannung erzeugen, wenn Flächen unterschiedlich groß und unterschiedlich geformt sind.
Tipps für spannende Flächenkompositionen:
Flächig denken: Egal ob du abstrakt oder figürlich arbeitest, fange an, deine Bilder als eine Komposition aus Flächen zu betrachten. Wo hast du große, kleine, runde, eckige, helle, dunkle Flächen? Wie sind diese zueinander positioniert? Entsteht eine Spannung zwischen ihnen?
Größenkontraste herstellen: Oftmals verwenden wir unbewusst gleich große Flächen in Bildern, selbst wenn diese unterschiedliche Formen oder Farben haben. Darauf achten und bewusst Flächen einarbeiten, die sehr viel größer oder sehr viel kleiner sind. In gegenständlichen Bildern heißt das nicht, dass man die Größe von Gegenständen ändern muss. Man kann beispielsweise auch welche optisch so verbinden, dass sie zusammen eine Fläche ergeben, etwas weglassen oder addieren.
Charakter – Werkzeuge für unterschiedliche Farbaufträge und Klänge
Genauso, wie der Klang unterschiedlicher Instrumente oder allgemein "Tonquellen" sich hervorragend zu einem Gesamtwerk zusammensetzt, können sich unterschiedliche Arten von Farbaufträgen hervorragend ergänzen. Wenn man so will, spreche ich hier vom Umgang mit dem Ton oder der Farbe.
Wird hier etwas hingerotzt oder feinsäuberlich ausgearbeitet, ist es verzerrt oder klar, geschrien oder gesungen, hart oder weich? Wird etwas pur verwendet oder gesampelt, geprügelt oder gestreichelt? Die Antworten darauf werden den Charakter des entstehenden Werks entscheidend prägen.
Tipps für charakteristische Farbaufträge:
Starthilfe: Texturen und Farbspuren können helfen, die Angst vor dem leeren Blatt zu verlieren. Indem wir auf einer Oberfläche anfangen, zu spielen, kreieren wir etwas, auf das wir reagieren und das wir entwickeln können. Das geht am einfachsten mit ungenauen Werkzeugen, die wir nicht so genau steuern können.
Werkzeuge: Es lohnt sich, zu testen, zu wechseln und zu kombinieren. Auch in gemalten Bildern darf gezeichnet, gesprüht und gespritzt werden. Zweckentfremdung von Werkzeugen aus dem Baumarkt sind bei größeren Bildern auch keine Seltenheit – schonmal mit Maurerkelle Farbe über ein Bild gestrichen oder gekratzt? Es entstehen hier immer Dinge, die ich nicht willentlich oder digital hätte herstellen können. "Gesteuerter Zufall" nannten wir das im Studium. Auch hier nicht vergessen: Es hilft, bewusst Kontraste herzustellen. Glatte Kanten und raue Kanten, kleine Pinsel und große Malerrolle.
Materialien: Es geht nicht nur um den Auftrag von Farbe, sondern generell um das Addieren von andersartigen Bildelementen. Hier kann auch Collage ein Weg sein. Ich arbeite beispielsweise mit Farbresten getrockneter Paletten oder Unterlegpapieren anderer Projekte, auf denen Farbränder entstanden sind. Spielen macht Spaß!
Geschichten – Figürliche Darstellung und Lyrics
Ich erlaube mir noch eine letzte Analogie: Abstrakte Kunst verhält sich meines Erachtens zu figürlicher Kunst wie instrumentale Musik zu solcher mit Gesang. Es geht darum, zu entscheiden, ob wir eine Geschichte nur andeuten oder sie wirklich erzählen wollen. Und wie bei der Musik, wo mich Songs mit guten Lyrics meistens mehr berühren, so erlebe ich Bilder mit einem sichtbaren Inhalt intensiver. Sie geben mir mehr, mit dem ich mich auseinandersetzen kann. Das ist rein subjektiv. Sowohl in Bezug auf Musik als auch auf Kunst kenne ich Menschen, die anders ticken und dazu genau das Gegenteil sagen würden. Und oft genug wird es im Hintergrund eines (abstrakteren) Werkes ein Konzept geben, das nicht sofort sicht- oder hörbar ist, aber mitschwingt, und sei es nur über den Titel.
Eine Ausnahme bildet für mich Filmmusik – vielleicht, weil die Geschichte ja trotzdem da ist, nur dass man hier keinen Gesang braucht, um sie zu erzählen.
Tipps für Bildkonzepte:
Rückgrat: Twyla Tharp nannte es in ihrem Buch "The Creative Habit" den "Spine" eines Kunstwerks – eine Art Rückgrat, die Grundidee, die einem Werk zugrunde liegt. Es ist die Frage, die man sich am Anfang eines jeden Projektes stellen sollte: Warum möchte ich dieses Projekt machen, was reizt mich daran? Es ist nicht unbedingt die Botschaft des Werkes, aber der Ausgangspunkt, seine Daseinsberechtigung.
Ob abstrakt oder nicht: Ein Thema hilft, Ideen zu entwickeln und anzufangen. Horcht in euch hinein, was euch interessiert, recherchiert, sammelt, geht durch die Welt mit der Brille des Künstlers/der Künstlerin. Wenn ihr wisst, was ihr erzählen wollt, werdet ihr das Bild dazu auch malen (oder den Song dazu auch schreiben) können. Vielleicht schreibt ihr euch sogar selbst ein Briefing, oder gar eine Bildbeschreibung, so als wäre das Werk schon fertig. Das heißt nicht, dass ihr von Anfang an wissen müsst, wie das Bild am Ende aussehen wird. Aber vielleicht, welches Gefühl es vermitteln oder was es erzählen soll.
Musik in meinen Ohren – den Pinsel auf der Leinwand
Vielleicht habe ich die Musikanalogie in diesem Beitrag etwas überstrapaziert, aber die Idee hat sich einfach sehr richtig angefühlt. Wie gern ich synästhetische Fähigkeiten hätte, um das Ganze noch mehr zu fühlen!
Was können wir nun daraus lernen? Vielleicht sollten wir in unseren Bildern mehr in Rhythmus und Komposition denken, in Klangbildern, in laut und leise, in einem Anfang und einem Ende. Vielleicht ist eine Bildserie eine Art Konzeptalbum auf visueller Ebene. Vielleicht gelingt Inspiration disziplinübergreifend.
Ich jedenfalls höre beim Malen schon seit eh und je Musik und lasse mich begleiten von all ihren Kontrasten, ihrer Energie und Emotion. Es sei denn, ich höre Podcasts. Aber das ist eine andere Geschichte. Und soll ein andermal erzählt werden.
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