Alles fließt
- Jeanette Bohn
- 30. Mai
- 3 Min. Lesezeit
Ein paar Treppenstufen noch, dann bin ich da. Ich bin im Treppenhaus zur 'Freien Kunstakademie Frankfurt', um mir frische Impulse zu holen.
Die aus der ehemaligen Städelschule hervorgegangene Akademie bietet semesterweise Abendkurse. An jedem Wochentag gibt es ein buntes Programm mit Kursen aller Art, zu einem unschlagbaren Preis-Leistungs-Verhältnis.

Die Entscheidung fiel, als ich mal wieder allein in meinem Atelier saß und nicht wusste, wie ich anfangen sollte. Ich hatte bei meinem 100-Tage-Projekt ein paar Skizzen produziert, die vielversprechend schienen – mit Farbe und Fineliner in meinem Art Journal. Das ist etwas, das mich seit Jahren reizt: Die Verbindung von Zeichnung und Malerei. Aber es schien wie verhext, ich kam nicht rein, wehrte mich innerlich, von Stift auf Pinsel umzusteigen, kam nicht vom Fleck.

Jetzt bin ich da, öffne die Tür und befinde mich in einem der beiden Malsäle. Es herrscht bereits reger Betrieb. Es werden Tische und Staffeleien gerückt, Pinsel ausgepackt, Wassergläser gefüllt. Ich suche mir einen Platz und fange auch an, meine Materialien und Werkzeuge auszupacken.

Friederike Walter, stellvertretende Kursleiterin für die erste Stunde, sagt kurz ein paar Worte und dreht dann ihre Runde. Als ich an der Reihe bin, zeige ich ihr mein Art Journal, erzähle, wie gern ich sowas größer machen würde und erkläre meine Bedenken, warum das nicht funktionieren wird. Ihre einfache und ebenso geniale Antwort ist: "Probier's aus!" So blöd es klingt, diesen Schubs habe ich gebraucht. Also höre ich auf, meine Zeit zu verschwenden und fange an.

Ich habe verschiedene Papiere mitgebracht und arbeite erstmal mit Acryl, verteile Farbe auf mehreren Blättern und schaffe eine Grundlage. Während ich auf das Trocknen der Farbe warte, schlendere ich durch die Reihen, schaue mich um und tausche mich mit den anderen aus. Im Anschluss kehre ich zurück zu meinen A2 Blättern, wähle eins aus und setze den Fineliner an. Genau – den Fineliner, keinen Pinsel. Wie im Skizzenbuch lasse ich mich von den Farbspuren leiten, lasse die Linien des Stifts mit den Pinselstrichen fließen, lasse mich steuern von den zufälligen Unregelmäßigkeiten.

Meine Linien betonen manches und lassen anderes unkommentiert, verdichten einige Strukturen und andere nicht. Das vertraute Zeichnen mit dem Stift ist leicht für mich, sofort bin ich im Flow, verliere mich im Bild. Und erinnere mich an etwas, das einst eine andere Künstlerin zu mir gesagt hat: "Mach mehr von dem, was dir leicht fällt! Steck da genau so viel Energie rein wie in die Dinge, die du nicht kannst!" Viel schneller als gedacht überkommt mich das Gefühl: Hey, das könnte funktionieren!
Fast Forward zum Ende des Semesters: In einer der letzten Stunden präsentieren wir uns gegenseitig die entstandenen Arbeiten. Weil ich meine Mitstreiter:innen gern inspirieren möchte, lege ich meine Reihe chronologisch auf dem Boden aus: angefangen mit meinem Art Journal über die ersten großen Versuche und in die späteren, komplexeren Motive mündend. Es ist gut zu erkennen, wie eins zum anderen geführt hat. Ich kann es in den Gesichtern der Betrachter:innen lesen: Wir verstehen es. Sehen, wo es herkommt, wie die Idee gereift ist, wie sich die nächsten Arbeiten organisch ergeben.

Ich erhalte viel positives Feedback. Zur Technik, zu den Fortschritten, zur Detailtiefe. Jede:r scheint etwas anderes in den Bildern zu sehen – einen Drachen, eine Stadt, einen Kampf, einen Tanz.
Wir diskutieren aufgeregt, wohin die Reise noch gehen könnte. Aus diesem Austausch – und aus dem mit der eigentlichen Kursleiterin, Suzanne Wild – ergibt sich eine ganze Liste weiterer Ideen, an denen ich noch arbeiten möchte. Ich habe das Gefühl, der Ideenstrom zu diesem Projekt wird noch eine ganze Weile fließen.
Das Besondere am Ende des Semesters sind aber nicht die Arbeiten, die da vor mir liegen. Vielmehr ist es das Gefühl, dass ich das nicht allein machen musste, dass mein Bild vom einsamen Künstlerinnendasein nicht unbedingt stimmt. Dass es Orte und Möglichkeiten gibt, sich auszutauschen und gemeinsam zu wachsen, sich ein kreatives Umfeld zu schaffen – auch für Soloprojekte. Und wenn es einfach nur eine Person ist, die einem sagt: Probier's aus!
Was für ein toller, inspirierenden Bericht. Vielen Dank, dass du deine Erfahrungen geteilt hast. Einfach mal Mut haben uns ausprobieren ist manchmal wirklich der beste Rat.