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Digitale Werkzeuge für analoge Malerei

Cheating vs. der eigene Anspruch


"Ein echter Künstler/eine echte Künstlerin benutzt keine Hilfsmittel. Er oder sie kann Perspektive, Anatomie und Gesichter ohne Weiteres korrekt wiedergeben. Die alten Meister hatten schließlich auch keine Hilfsmittel." So oder so ähnlich dürfte ein Glaubenssatz vieler Künstler:innen lauten. Ich war selbst davor nicht gefeit. Was, wenn das aber gar nicht wahr ist? Was, wenn eigentlich alle Hilfsmittel nutzen und schon immer genutzt haben, und man sich diesen Struggle völlig grundlos auferlegt?


Kunstgeschichte, neu geschrieben


David Hockney, ein bekannter britischer Künstler, hat sich intensiv mit Gemälden aus sämtlichen Epochen der Kunstgeschichte auseinandergesetzt. Im 15. Jahrhundert gab es einen enormen Sprung in Sachen "naturgetreue Darstellung", die bis dato noch kein Kunsthistoriker erklären konnte. Hockney entdeckte, dass dies mithilfe von gebogenen Spiegeln bewerkstelligt wurde, welche eine Abbildung der Wirklichkeit auf eine Leinwand projizierten. Im Grunde, als würde ein Beamer einen Kamera-Livestream zeigen – nur eben mit einfachsten technischen Mitteln. Er konnte dies in zahlreichen Experimenten nachweisen.


In dieser BBC Dokumentation kann man sich selbst einen Eindruck verschaffen und nachvollziehen, warum Portraits und Perspektiven zu dieser Zeit plötzlich so viel besser wurden.


Als erster hat vermutlich Jan van Eyck (ca. 1390–1441) die Spiegel-Technik genutzt. In seinem berühmten Gemälde "Die Arnolfini-Hochzeit" kann man das beispielsweise sehr gut an dem Kronleuchter nachvollziehen, der ansonsten fast unmöglich so exakt perspektivisch nachzubilden gewesen wäre, inklusive realistisch platzierter Glanzlicher und allem Drum und Dran.



Etwa ein Jahrhundert später schwenkten die Künstler (zu diesem Zeitpunkt quasi ausschließlich Männer) von Spiegeln auf Linsen um, weil diese mehr Möglichkeiten boten. Dies ist besonders gut nachvollziehbar, weil die dadurch produzierten Fehler es oft mit in die Gemälde schafften. So gibt es aus dieser Zeit auffällig viele Linkshänder:innen in den Bildern – weil die Bilder durch die Linse gespiegelt wurden. Auch wurden viele Verzerrungen mit abgebildet – zu lange Beine, zu große Arme, etwa weil sie am Rand der Linsen projiziert und so optisch verformt wurden.


Fotografie und Film


Mit Beginn der Fotografie im 19. Jahrhundert entwickelten sich in der Kunst Gegenbewegungen weg von der reinen Abbildung. David Hockney drückte es so aus, dass die "Merkwürdigkeit" um 1870 in die Malerei zurückkehrte. Gemeint waren damit die Stile der modernen Kunst, in denen versucht wurde, mehr als das korrekte Bild (aus der Perspektive einer Linse) darzustellen. Es ging um einen Gegenpol zur Fotografie, den Versuch, darzustellen, wie wir "wirklich sehen". So fanden beispielsweise flimmerndes Licht, Multiperspektiven und surreale Kompositionen ihren Weg in die Malerei.


Was die Fotografie anging, so wurde sie selbst zur Kunstform. Außerdem konnten die Künstler:innen auch fotografische Vorlagen nutzen – ob heimlich oder offen. Francis Bacon, ebenfalls ein bekannter britischer Maler, hat Fotos gefaltet, abgerieben oder zerschnitten, um andersartige Vorlagen für seine verzerrten, geschundenen Darstellungen von Gesichtern zu erhalten. Zu Lebzeiten (1909–1992) stritt er dies jedoch ab. Im Buch "In the mirror of photography" heißt es dazu: "Die Gründe dafür, dass Bacon seine Beschäftigung mit der Fotografie aus dem Blickfeld der Kritiker hielt, waren vielfältig. Ein wichtiger Faktor war der lange Kampf der Fotografie um Akzeptanz im Bereich der bildenden Kunst. Charles Baudelaire vertrat 1859 die Ansicht, dass Fotografien nur von Malern verwendet würden, die 'zu wenig Talent hätten oder zu faul seien, ihre Studien zu vollenden'."


Digitalisierung


Durch die technische Entwicklung der letzten Jahre war es nie einfacher, praktische und bezahlbare digitale Hilfsmittel zu finden. Sowohl die Amateur-Apps auf dem Smartphone als auch die Profi-Anwendungen auf dem Computer werden stetig besser. Digital Painting, Illustration mit dem iPad, Bildbearbeitung mit Photoshop usw. gehörigen längst zum Alltag von Designer:innen und Illustrator:innen.


Aber erst durch die britische Sendung "Portrait artist of the year" habe ich so richtig verstanden, mit welcher Selbstverständlichkeit auch analog arbeitende Künstler:innen von der Technik unterstützt werden. In der Sendung haben die Kandidat:innen vier Stunden Zeit, um ein Portrait zu malen und man kann den Prozess in Auszügen mitverfolgen. Das macht die Serie für mich sehr wertvoll, auch wenn sie leider nicht außerhalb von UK nicht verfügbar ist – bis auf die Folgen, die irgendwer auf Youtube stellt. Es hat mich überrascht, dass die meisten Teilnehmenden auf Hilfsmittel wie Digitalfotos und Gitter-Apps setzen – ganz offen, vor riesigem Publikum.


Es ist nicht so, als hätte ich das vorher nicht gemacht, aber seitdem tue ich das viel selbstverständlicher und mit weniger "schlechtem Gewissen". Im Folgenden stelle ich einige Tools und Arbeitsweisen vor, die ich als nützlich erachte.


Perspektive und Ähnlichkeit


Etwas möglichst realistisch abbilden:


1. Gitter-Apps wie beispielsweise Grid # (iOS App)

Ich habe einige getestet und finde diese bisher am besten, da man unabhängig vom Verhältnis des Vorlagenbildes Quadrate erstellen lassen kann (in anderen Apps dann oft Rechtecke, d.h. nicht zu gebrauchen). Anzahl, Farbe und Linienstärke können ebenfalls eingestellt werden. Nach der Erstellung der Gitter auf dem Foto, misst man sich ein Gitter mit den gleichen Einteilungen auf der Leinwand ab und überträgt dann Quadrat für Quadrat die Grundformen als Vorzeichnung. (Pro-Tipp für Acrylbilder: Das Gitter mit Aquarellbuntstiften zeichnen und im Anschluss einfach mit Wasser abwaschen. Viel sauberer als Bleistift und Radieren!) Alternativ kann man sich ein Gitter auch mit Hilfslinien bspw. in Photoshop erstellen und dieses sogar an die Maße der Leinwand anpassen.



Maßstabsgetreues Photoshop-Gitter für ein Selbstportrait

2. Abgleich im Bildbearbeitungsprogramm

Dieses Vorgehen kommt vor allem dann zum Einsatz, wenn ich zu faul für Gitter bin und direkt mit dem Zeichnen anfange. Oft fotografiere ich dann meine Malerei und prüfe digital, wie nah ich rangekommen bin. Ich denke auch, dass dieses Vorgehen mein Auge mehr schult, weil ich dann sehe, wo ich mich verschätzt habe. Ich verwende dazu Adobe Photoshop, günstige Alternativen wären beispielsweise Affinity Designer, Procreate (iOS) – oder jedes andere Bildbearbeitungsprogramm. Wichtig ist lediglich, dass man Bilder auf Ebenen transparent übereinanderlegen kann.





3. Beamer

Habe ich bisher noch nicht gemacht, aber ist natürlich auch eine Variante: Vorlagen einfach per Beamer auf die Leinwand projizieren – so wie früher die Spiegel und Linsen.


Anatomie


Dies ist kein Plädoyer gegen das Üben von Grundlagen. Wissen über Proportionen, Muskeln und co. machen uns schneller und lassen uns einfacher Fehler erkennen. Hierfür kann ich Prokos Youtube-Kanal sehr empfehlen sowie jegliche Videos zur "Loomis Method" für Gesichter. Dennoch können folgende Anatomie-Apps sehr helfen:


In dieser App, die ebenfalls von Proko stammt, kann man ein Skelett frei im Raum positionieren. Man kann das Modell auch beleuchten und eine Art Schaufensterpuppenoptik verwenden, aber man hat keine Muskeln oder realistische Oberflächen. Es ist eine gute Methode, um zu verstehen, wie sich die zugrunde liegende Anatomie im 3D-Raum verhält.


Diese beiden Apps sind im Grunde gleich – eine männliche, eine weibliche Version. Man kann aus verschiedenen Körpertypen, Frisuren und Handposen wählen, die Pose, das Licht und die Kamera einstellen. Eigentlich unbezahlbar!



Links: Skelly, rechts: ArtPose

Der "Zurück" Button


Wie auch die beiden Autoren von "Nea Machina – Die Kreativmaschine" schrieben, sollte man die digitale Weiterbearbeitung vor allem nutzen, um immer einen Schritt weiter zu gehen als analog. Alles auszuprobieren, was man sich analog gar nicht trauen würde, aus Angst, das Bild zu zerstören. Egal in welcher Software – hier können wir experimentieren ohne Konsequenzen, übermalen, zerstören, vervielfältigen, ohne Angst, etwas kaputt zu machen. Daher ist mein ultimatives digitales Tool der "Zurück-Button".


Tonwerte


Wie bereits im letzten Beitrag zum Thema "Kontraste in Bildern" erwähnt, gilt der Hell-Dunkel-Kontrast als der wichtigste im Bild, wenn es um die Abbildung von Räumlichkeit und die Spannung in der Komposition geht. Um die Tonwerte eines Bildes besser einschätzen zu können, kann ich empfehlen, ganz "quick and dirty" ein Foto mit dem Smartphone zu machen und direkt in der Fotoapp in Schwarzweiß umzufärben, ohne sonstige Einstellungen zu verändern (Kontrast o.ä.). So kann man schnell sehen, ob das Bild funktioniert oder nicht.


Zeigen von Gemälden im Raum


Es geistern diverse Apps herum, um Bilder in räumliche Situationen hineinzukopieren, damit sie noch besser aussehen. Bisher waren meine Erfahrungen damit eher negativ. Zum einen wird selten die reale Größe der Bilder beachtet, sodass Bilder manchmal viel größer dargestellt werden, als sie wirklich sind. Zum anderen kosten diese Apps nach ein paar wenigen Bildern (oft mit Wasserzeichen oder in der Größe limitiert) recht schnell recht viel Geld. Mein empfohlener Weg wäre daher: Sich auf Unsplash (für kommerzielle und nicht-kommerzielle Zwecke einsetzbare Bilder (kostenlos sofern nicht in der Unsplash+ Serie)) ein paar schöne Räume herauszusuchen und die Bilder selbst mit einem Bildbearbeitungsprogramm einzuarbeiten. Dabei abschätzen, wie groß die Bilder wirklich sind und sie in realistischer Größe darstellen.



Foto (ohne mein Gemälde): Lakeisha Bennett, Quelle: Unsplash

Künstliche Intelligenz


Aktuell fluten diverse KI-Bildgeneratoren die Welt. Die bekanntesten dürften Midjourney, Stable Diffusion und Apps wie "Dream" sein. Das steht derzeit noch unter großer Kritik, da die Rechte an den Bildern noch nicht abschließend geklärt sind. Die KIs werden mit Bildmaterial von Künster:innen und Designer:innen gefüttert, die dem nie zugestimmt haben, und können diese oft sehr gut nachempfinden. Andererseits sind Stile nicht schützbar. Ich kann hierzu aktuell nur den einen Rat geben: Seht diese Tools als Inspirationsquellen an, mit denen ihr experimentieren und spielen könnt. Und dann ran an den Pinsel und etwas eigenes daraus machen ;)


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